„Nimmt man die Chance aus der Krise – wird sie zur Gefahr. Nimmt man die Angst aus der Krise – wird sie zur Chance.“, so eine alte Volksweisheit. Welche Erkenntnisse die aktuelle Situation bringt, wie man handlungsfähig bleibt und warum es genau jetzt darauf ankommt Mut zu beweisen, habe ich Psychologe & Therapeut Reimar Martin von der BAD GmbH gefragt. 

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Befinden wir uns überhaupt in einer Krise?

Auf jeden Fall befinden wir uns in einer Ausnahmesituation. Die Rahmenbedingungen haben sich massiv geändert. Die Wahrnehmung zur Zeit mag individuell sein, aber die Herausforderungen, sowohl gesellschaftlich, wirtschaftlich, familiär, aber auch psychisch und körperlich, schränken uns ein. Wir werden mit unseren Ängsten konfrontiert und unsere gewohnten Bewältigungsmechanismen greifen nicht mehr. 

Gibt es zur Zeit auch so etwas wie Gewinner?

Das Wort Gewinner suggeriert, dass die momentane Situation ein Spiel ist, dessen Ausgang planbar ist. Das ist nicht der Fall. Es ist sehr schwierig vorauszusagen, wer langfristig profitieren wird. Natürlich gibt es Unternehmen, die zufälligerweise mit ihrem Geschäftsmodell oder ihrer Branche weniger betroffen sind oder sich entsprechend angepasst haben.

„Ängste können Kreativität behindern“

Aber?

Immer mit der Voraussetzung, dass grundlegende Ressourcen vorhanden sind. Ängste können Kreativität behindern.

Was gewinnen wir als Gesellschaft?

Die neugewonnene Solidarität ist ein positiver Effekt. Das wird sich auch in Arbeitsprozessen, Rollenbildern und im Kulturverständnis niederschlagen. Werte und Leitgedanken werden diskutiert. Jetzt stellen wir uns die Frage, was eigentlich wirklich wichtig ist.

„Jetzt stellen wir uns die Frage, was eigentlich wirklich wichtig ist.“

„Krise als Chance“ – Reine Floskel oder Gelegenheit für neue Wege?

Die Frage spiegelt ein Grundbedürfnis bzw. einen gesellschaftlichen Trend der (Selbst-)Optimierung in unserer Gesellschaft wider. Wir möchten aus jeder Herausforderung auch etwas Positives ziehen. Aber Chancen brauchen Raum und Zeit, sowie bewusste Auseinandersetzung.

Also lieber etwas mehr Selbstreflexion?

Aktuell sind wir gezwungen, unsere Komfortzone zu verlassen. Bevor wir also neue Wege gehen, sollten wir erst einmal eine Bestandsaufnahme machen. Das bedeutet, sich auf seine Fähigkeiten und Kompetenzen zu besinnen. Dann erst kommt die Frage, was ich aus der Situation lernen kann. 

„Chancen brauchen Raum und Zeit“

Dafür darf man sich auch Hilfe holen?

Momentan braucht jeder einen Ort, an dem er wieder Raum für sich selbst hat. Wer an seine Grenzen kommt, sollte sich mit Familie und Freunden austauschen. Auch der Gang zum professionellen Beratenden kann helfen.

Woher kommen diese Unsicherheiten?

Das liegt nicht nur an den Umständen, sondern auch an der nicht vorhandenen Absehbarkeit. Wie stark werde ich betroffen sein? Wie lange wird mein Umfeld betroffen sein? Welche dauerhaften Folgen wird es haben? „Unbekannte Unsicherheiten“ haben einen starken Einfluss. In solchen Situationen fallen wichtige persönliche Anker weg. Das macht die Bewältigung so schwierig. 

Sollte man die Gelegenheit nutzen, um genau jetzt in sein Unternehmen zu investieren?

Die Frage ist erst einmal, welche Ressourcen habe ich, die ich investieren kann. Was brauche ich, um die aktuelle Situation zu meistern? Wie viel davon kann ich mir leisten und schaffen? Dabei geht es nicht nur um Geld, sondern auch um Investments wie Zeit, Vertrauen und Raum für Innovation. 

„Wer sich treiben lässt, beraubt sich selbst der Handlungsfähigkeit und Selbstwirksamkeit“

Worauf kommt es jetzt an?

Auf kompetente Führung. Wir brauchen Vorbilder, die Orientierung geben. Das erfordert Mut. Mut, sich zu positionieren und sich damit anderen Meinungen auszusetzen.  Aber auch Mut, Fehler zu machen, sich zu irren und etwas zu riskieren. Wer sich treiben lässt, beraubt sich selbst der Handlungsfähigkeit und Selbstwirksamkeit. 

Das bedeutet agil zu sein?

Bei so viel Unsicherheit ist Agilität wichtiger denn je. Es gibt kein richtig oder falsch. Es geht vielmehr darum, Wege in eine neue Normalität zu finden. Und das gemeinsam – Schritt für Schritt. 

Aber?

Wer zu viel parallel versucht, verliert den Überblick über die Effektivität. Gerade jetzt sollte man strategisch vorgehen und Maßnahmen schaffen, die transparent und nachvollziehbar sind. 

„Momentan zählt es, handlungsfähig zu bleiben“

Wie erreiche ich das?

Momentan zählt es, handlungsfähig zu bleiben. Manche Veränderungen, die wir erfahren, hätten vor der Corona Pandemie Jahre gedauert. Auf einmal klappt es kurzfristig. In vielen Bereichen hat ein verstärkter Pragmatismus Einzug gehalten. Vor allem die  gemeinsame Agilität sowie ein bewusstes iteratives Vorgehen scheinen sehr hilfreich. Anschließend braucht es einen Passungscheck, ob die Veränderungen und Entwicklungen dauerhaft zielführend sind. Einiges wird sich im Nachhinein als unpassend erweisen, einiges wird bleiben. 

Wie zeitgemäß ist Präsenzkultur? 

Wir erleben gerade, dass die Präsenzkultur durch die Notwendigkeit im Home Office zu arbeiten, aufgebrochen wird. Nach der Krise werden wir von der gestärkten Vertrauenskultur profitieren. Allerdings reden wir dabei vor allem über die Angestellten, in den Verwaltungen.  Viele Berufsgruppen haben gar nicht de Möglichkeit, außerhalb ihres Arbeitsplatzes zu arbeiten – bspw. die Pflegebranche, der Einzelhandel oder auch die Paketboten. Das dürfen wir nicht aus den Augen verlieren. Genau diese Bereiche erfahren jetzt große Wertschätzung. „Ich hoffe, das Danke sagen vergessen wir als Gesellschaft nicht zu schnell.“

„Es kommt zum Vorschein, was sich hinter der Maske verbirgt“

Was lernen wir aus der Krise?

Corona schminkt ab! Leitbilder, Werte, Versprechen, aber auch Sicherheiten sind auf dem Prüfstand. Es kommt zum Vorschein, was sich hinter der Maske verbirgt – das kann positiv, aber auch enttäuschend sein. Die Frage stellt sich, wie gut wir diese Erkenntnisse in ein „Danach“ transportieren können. 


Reimar Martin ist Psychologe (M.Sc., Universität Hamburg), zertifizierter systemischer Berater und Therapeut. Nach verschiedenen Tätigkeiten u.a. in der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe sowie im forensischen Kontext, ist er seit 2017 im Gesundheitszentrum Hannover (B·A·D GmbH) tätig. Derzeit umfasst seine Arbeit als Leiter der Sparte Gesundheitsmanagement neben dem überregionalen Aufbau des Geschäftsfeldes Gesundheitsmanagement das Angebot von Dienstleistungen in den Bereichen EAP und Kompetenzentwicklung, sein Schwerpunkt liegt im Bereich der Mitarbeitenden- und Führungskräfteberatung. Weiterhin unterstützt er Projekte im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen. Als Autor und Referent begleitete er in den letzten Jahren verschiedenste Projekte, seit 2014 auch als Lehrbeauftragter am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Hildesheim.

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